Ausgangslage und Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs
Die Ausgangslage für den Fortbestand von Kundenanlagenkonstellationen in Deutschland war angesichts des Falls, der dem Vorabentscheidungsersuchen vorliegend zugrunde lag, denkbar ungünstig: Der BGH hatte im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens eines vermeintlichen Kundenanlagenbetreibers ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH eingeleitet. Zuvor hatte die Zwickauer Energieversorgung GmbH als zuständiger Netzbetreiber den Antrag auf Netzanschluss der vermeintlichen Kundenanlage abgelehnt, und die Sächsische Landesregulierungsbehörde und das OLG Dresden (Beschluss vom 16.09.2020, Kart 9/19) hatten die Beschwerde des vermeintlichen Betreibers der Kundenanlage zurückgewiesen. In zwei BHKW wollte der vermeintliche Kundenanlagenbetreiber Strom und Wärme selbst erzeugen, über Leitungen transportieren und an eigene Mieter liefern - Erzeugung, Transport und Lieferung aus einer Hand und das in einem wettbewerblich erheblichen Umfang (wie bereits das OLG Dresden feststellte). Dass dies europarechtlich unter Wettbewerbs- und Entflechtungsgesichtspunkten auf wenig Begeisterung des EuGH stoßen würde, war jedenfalls nicht fernliegend.
Unionsrechtlichen Klärungsbedarf sah auch der Bundesgerichtshof („BGH“) im Rahmen der Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin des vermeintlichen Kundenanlagenbetreibers und legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 2 Nrn. 28 und 29 sowie Art. 30 ff. der Richtlinie 2019/944 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die Anlagen wie die von ENGIE geplanten von den Pflichten eines Verteilernetzbetreibers ausnimmt (BGH, Beschluss vom 13.12.2022, EnVR 83/20).
Der BGH hob hervor, dass die Einstufung als Kundenanlage Wettbewerbsverzerrungen und ineffiziente Netzstrukturen begünstigen könnte, insbesondere bei einer Zunahme ähnlicher Anlagen.
Unionsrechtwidrigkeit und wesentliche Gründe des EuGH
Definition des Verteilernetzbegriffs
Der EuGH stellt mit seinem Urteil grundsätzlich klar, dass ein Verteilernetz im Sinne von Art. 2 Nr. 28 der RL EU 2019/944 ein Netz ist, das Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung weiterleitet, die zum Verkauf an Großhändler bzw. Endkunden bestimmt ist (Tz. 50 – 52). Nur zwei Kriterien sind dafür laut EuGH entscheidend:
- Die Spannungsebene (mindestens Niederspannung) (Tz. 53),
- Die Kategorie der belieferten Kunden im Sinne von Art. 2 Nr. 1 RL EU 2019/944 (Großhändler bzw. Endkunden).
Weitere Merkmale, wie der Zeitpunkt der Errichtung eines solchen Netzes bzw. einer Anlage, die Größe der Anlage, ihre Nutzung durch Haushaltskunden oder die Eigentumsverhältnisse, seien unerheblich (Tz. 53 – 55).
Verbot der Herausnahme von Anlagenbetreibern aus dem Verteilernetzbetreiberbegriff
Der Begriff „Verteilernetzbetreiber“ wird in Art. 2 Nr. 29 RL EU 2019/944 definiert. Sämtliche Betreiber eines Netzes, das Strom auf Hoch- Mittel- oder Niederspannung an Endkunden weiterleitet, sind Verteilernetzbetreiber im Sinne der Richtlinie (Tz. 63 – 65). Nationale Regelungen, die solche Betreiber von Verpflichtungen befreien oder anhand abweichender Kriterien definieren, sind mit wenigen, in der Richtlinie selbst zugelassenen Ausnahmen (hierzu 3.) unzulässig, da dies den Anwendungsbereich der Richtlinie umgehen würde (Tz. 66 – 68).
Ausnahmen und Freistellungen: Enge Voraussetzungen
Die Richtlinie erlaubt Ausnahmen und Freistellungen nur ausdrücklich geregelten Fällen, die nun nach dem EuG-Urteil auch als abschließend angesehen werden müssen:
- Bürgerenergiegemeinschaften (Art. 16 RL EU 2019/944): Ausnahme für bestimmte juristische Personen, die von natürlichen Personen, Gebietskörperschaften oder Kleinunternehmen als Mitglieder oder Anteilseigner tatsächlich kontrolliert werden (Tz. 70).
- Geschlossene Verteilernetze (Art. 38 RL EU 2019/944): Mitgliedstaatliche Freistellung von bestimmten Verteilernetzbetreiberpflichten im Rahmen von „geschlossenen Verteilernetzen“ möglich, wenn insbesondere Voraussetzungen von Art. 38 der RL EU 2019/944 gewahrt sind und keine Haushaltskunden versorgt werden. Damit Ausnahme für geografisch abgegrenzte Industrie- oder Gewerbegebiete denkbar (Tz. 71).
- Regionale Ausnahmen (Art. 66 RL EU 2019/944): Bestimmte Ausnahmen für Zypern, Luxemburg, Malta und Korsika, die für Kundenanlagenkonstellationen in Deutschland ebenso wie die Ausnahme für kleine, isolierte Netze oder Netzverbünde mit einem Verbrauch von weniger als 3.000 GWh im Jahr 1996 mit weniger als 5 % Bezug aus Verbundnetzen keine Rolle spielen werden (Tz. 72 f.).
Nach Ansicht des EuGH ist für Anlagen wie denjenigen im Ausgangsverfahren des vorgelegten Falls nicht ersichtlich, dass und wie die Ausnahmevoraussetzungen erfüllt werden könnten. Der EuGH betont im Hinblick auf geschlossene Verteilernetze, dass im vorgelegten Fall vielmehr die Versorgung von Haushaltskunden hauptsächlich oder sogar ausschließlich erfolgt. Ausnahmen über die in der Richtlinie EU 2019/944 ausdrücklich geregelten hinaus, worunter der EuGH wohl auch die deutschen Regelungen zu Kundenanlagen in § 3 Nr. 24a EnWG fasst, laufen den mit der Richtlinie verfolgten Zielen zuwider und gefährden die Integration, Wettbewerbsorientierung und Transparenz der Elektrizitätsmärkte (Tz. 76 - 78).
Auswirkungen und Fazit
Deutschland wird die Regelungen zu Kundenanlagen nach § 3 Nr. 24a EnWG überarbeiten müssen, um sie mit den Anforderungen der Art. 2 Nrn. 28 und 29 sowie Art. 30 bis 39 Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie in Einklang zu bringen.
Für die aktuellen Kundenanlagen ist die Lage äußerst misslich. Die Gefahr, dass sie im Rahmen der Jahresabschlussprüfung nicht mehr anerkannt werden, ist erheblich. Kundenanlagen nach § 3 Nr. 24a EnWG dürften jedenfalls zukünftig in den meisten Fällen zunächst als „reguläre“ Verteilernetze gelten, sofern nicht Ausnahmen eingreifen. Mit allen Folgen hinsichtlich der dann zu erfüllenden Netzbetreiberpflichten. Mit Blick auf die buchhalterischen Regelungen zur Entflechtung müssen Unternehmen daher unverzüglich Lösungen suchen. Beispielsweise besteht die Möglichkeit, Kundenanlagen ggf. als „geschlossene Verteilernetze“ einzustufen zu lassen, wenn die Voraussetzungen nach deutschem Recht vorliegen und insbesondere nicht hauptsächlich Haushaltskunden versorgt werden. Auf die Regulierungsbehörden könnte eine Antragswelle zukommen.
Hoffnung besteht vor allem für Kundenanlagen zur betrieblichen Eigenversorgung nach § 3 Nr. 24b EnWG. Diese dienen ihrem Wesen nach nicht der Weiterleitung zur Versorgung von Endkunden, sondern der Verteilung entsprechend dem Bedarf im jeweiligen Unternehmen. Auch Konstellationen in denen eigenerzeugte Mengen über eine Direktleitung außerhalb der Drittversorgung nach § 3 Nr. 12 EnWG angebunden sind erfasst die Begriffsauslegung des EuGH wohl nicht.
Unser Angebot
Gerne diskutieren wir mit Ihnen die Auswirkungen dieser Richtlinienauslegung des EuGH und insbesondere Ansätze für einen Fortbestand von Ausnahmen von den Pflichten eines Verteilnetzbetreibers. Alternativ unterstützen wir bei der Organisation des Netzbetriebs, Antragstellungen und bei Fragen zum richtigen Netzentgelt sowie der Einhaltung von Entflechtungsregelungen. Es bleibt abzuwarten, welche Gesetzesänderungen in Deutschland erfolgen werden. Das ändert aber nichts daran, dass nach dem EuGH ein Fortbestand der Kundenanlage in der bisherigen Form kaum vorstellbar ist. Bei Rückfragen und zur vertieften Einordnung stehen wir Ihnen sehr gerne zur Verfügung. Es gilt sich nun rechtzeitig auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.
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